Ockhams Rasierklinge

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Wilhelm von Ockham

(ca. 1280 bis 1348)

… begründet am Ausklang des Mittelalters eine Gedankenbewegung, mit der Grundlagen neuzeitlichen Denkens vorbereitet werden. Die von Ockham ausgehende Strömung bildet den „neuen Weg“ (via moderna) im Gegensatz zum „alten Weg“ (via antiqua) der bei Albert, Thomas und Duns Scotus anknüpfenden Schulen.
Als Grundlage von Ockhams theoretischer Philosophie werden vor allem zwei Prinzipien hervorgehoben:

– Das Omnipotenzprinzip besagt, dass Gott aufgrund seiner Allmacht die Dinge auch hätte anders schaffen können und dass er jederzeit das, was er mittelbar durch Zweitursachen (natürliche Wirkungszusammenhänge in der Welt) hervorbringt, auch unmittelbar selbst bewirken kann. Daraus ergibt sich, dass wir sowohl die Existenz von Dingen, als auch den Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht aus notwendigen Gründen erkennen können.
Kein Seiendes A impliziert von sich aus notwendig die Existenz von B. Es kann lediglich behauptet werden, dass B auf A natürlicherweise regelmässig folgt (z. B. Rauch auf Feuer).

Die geschaffene Welt ist somit für den Menschen ein Zusammenhang von kontingenten Fakten. Ihre Erkenntnis ist daher nicht aus vorangehenden Gründen möglich, sondern aufgrund von Erfahrung und Studium dessen, was faktisch vorhanden ist und geschieht.

– Das sogenannte Ökonomieprinzip (»Ockhams Rasiermesser«) lautet:
„Eine Vielheit ist ohne Notwendigkeit nicht zu setzen (pluralitas non est ponenda sine necessitate).“
Alle zur Erklärung einer Sache nicht notwendigen Begründungen sind überflüssig und daher wegzuschneiden.
Dieses methodische Prinzip enthält zugleich Metaphysikkritik auf sprachlicher Grundlage. Es wendet sich gegen den fälschlichen Glauben, dass jedem sprachlichen Ausdruck auch eine Realität entsprechen müsse, der die unbegründete Vermehrung von Entitäten aufgrund blosser sprachlicher Gegebenheiten zur Folge hat.

In der Universalienfrage zeigt sich Ockhams nominalistischer Standpunkt. Real ist nur das einzelne. Ockham benötigt daher auch kein Individuationsprinzip, da alles Seiende von Gott individuell geschaffen ist. Alles Allgemeine existiert nur im Geist (in mente).

„Daran halte ich fest, dass es kein auf welche Weise auch immer ausserhalb der Seele existierendes Allgemeines gibt, sondern alles, was allgemein ist und von mehreren aussagbar, existiert im Geiste…“

Die Allgemeinbegriffe sind eine Leistung des Erkenntnisvermögens, mit dem sich der Mensch auf etwas bezieht.

Begriffe sind Zeichen, die auf etwas anderes verweisen. So ist das Universale ein Zeichen das sich auf Vieles beziehen kann.

Der Begriff ist ein in der Seele Vorkommendes, das etwas anderes bedeutet, wofür es im Satz steht (supponiert).

Um die Bedeutung eines Terminus zu verstehen, muss man wissen, wofür er supponiert. Ockham unterscheidet hier 3 Arten:
Personale Supposition liegt vor, wenn der Terminus für das steht, was er bezeichnet,

z. B. steht „Mensch“ in dem Satz „Sokrates ist ein Mensch“ für einen einzelnen Menschen.

In der einfachen Supposition steht der Begriff für sich selbst,

z. B. „Mensch ist eine Art“, womit nicht behauptet wird, dass der einzelne Mensch eine Art ist.

In der materialen Supposition steht der Terminus für das Wort oder Schriftzeichen,

z. B. „Mensch ist ein geschriebenes Wort“.

Ein Satz ist wahr, wenn Subjekt und Prädikat für dasselbe supponieren.
Ockham unterscheidet zwischen absoluten und konnotativen Begriffen.
Absolute Begriffe bezeichnen direkt reales einzelnes.
Konnotative Begriffe bedeuten etwas in erster und zweiter Hinsicht. Sie setzen die zusammenstellende und ordnende Tätigkeit des Geistes voraus und stehen daher nicht für eigenständige Dinge.

So stellt Ockham fest, dass sich nur zwei der aristotel. Kategorien, Substanz und Qualität, direkt auf Reales beziehen. Dagegen bezeichnet z. B. die Quantität primär die Substanz und sekundär das Ausgedehntsein, das aber nichts von der Substanz verschiedenes ist.

Bei der Erfassung eines Sachverhalts unterscheidet Ockham zwischen intuitiver und abstraktiver Erkenntnis.
Die intuitive Erkenntnis erfasst zweifelsfrei die Existenz eines Gegenstandes. Sie bezieht sich auf sinnlich Wahrnehmbares und auf die innere Selbsterfahrung.
Abstraktive Erkenntnis ermöglicht Aussagen aufgrund von Begriffen auch in Abwesenheit des Objekts, sagt dafür aber nichts über die tatsächliche Existenz des Gegenstandes aus. Sie ist somit immer auf die intuitive Erkenntnis verwiesen.

So lässt sich z. B. die Unsterblichkeit der Seele aus Vernunftgründen nicht erweisen, da sie keine Erfahrungsgrundlage hat.

Ab 1328 greift Ockham (kirchen)politische Themen auf. Er verteidigt vor allem das Recht des franziskanischen Verzichts auf Eigentum und vertritt die Unabhängigkeit der weltlichen (kaiserlichen) Macht von der päpstlichen. Dabei betont er, dass die Legitimation der weltlichen Herrschaft auf der freien Zustimmung der Bürger beruht.

Quelle: dtv-Atlas zur Philosophie, 5. Auflage, 1995, Seite 89

Das grosse Missverständnis

Unter den Verfechtern naturwissenschaftlicher Weltanschauung hat sich das Missverständnis eingeschlichen, man könne Ockhams Ökonomieprinzip im Wettstreit verschiedener Theorien einsetzen.
Ockham sagt jedoch ganz klar: „Alle zur »Erklärung einer Sache« nicht notwendigen Begründungen….sind wegzuschneiden.“
Wie ist das zu verstehen?

Ein Beispiel:
Wir haben eine Theorie, die »Gott« als Ursache des Universums erklärt (Schöpfungslehre, die gemäss dem Hintergrund variert, sich aber immer auf einen persönlichen Gott begründet) und
eine zweite Theorie, die den »Urknall« als diese Ursache heranzieht. Wobei hier noch nicht einmal befriedigend geklärt ist, wer oder was denn nun die Ursache des Urknalls ist, was wieder ganz neue Hypothesen (oder Axiome) ins Spiel bringt.

Eine Theorie versucht zu erklären, wie man Gottes Kräfte als Ursache hinter dem Universum erkennen kann.
Die andere Theorie versucht durch ein vielschichtiges Axiomensystem ihre Betrachtungsweise zu veranschaulichen.
Es handelt sich also konkret um zwei völlig voneinander verschiedene Theorien, die erklärt werden. Daher können sie nicht mit Ockhams Ökonomieprinzip verglichen werden, weil jede einzelne von ihnen einen vollständig anderen Erklärungs-Ansatz hat, durch den die jeweilige Theorie, die zur Erklärung notwendigen Begründungen liefert.
Ockhams Ökonomieprinzip ist daher nur auf das Innere einer spezifischen Theorie anwendbar, wo alle überflüssigen Begründungen oder Hypothesen wegzuschneiden sind, die zur Erklärung der Sache nicht notwendig sind.

Es bedeutet also folglich nicht, dass eine in sich geschlossene und von überflüssigen Axiomen befreite Theorie abgelehnt werden muss, nur weil sie ein Axiom mehr benutzt als eine andere Theorie, die einen anderen Erklärungsansatz propagiert.