18.66 Der meistzitierte Gita-Vers

Bhagavad-Gita 18.66 – Der meistzitierte Bhagavad-Gita-Vers

sarva-dharmān parityajya
mām ekaṁ śaraṇaṁ vraja
ahaṁ tvāṁ sarva-pāpebhyo
mokṣaviṣyāmi mā śucaḥ

Wort-für-Wort Übersetzung

  • sarva-dharmān – alles Dharma (die im Veda vorgeschriebenen Pflichten für das jeweilige Varna und Ashrama)
  • parityajya – aufgeben, verzichten
  • mam – ich, für mich, in mir
  • ekam – allein, ausschließlich, einzig, nur
  • śaraṇaṁ – Zuflucht, Ort der Ruhe
  • vraja (in der Verb-Form eine zwingende Handlung; vraj) – nimm, tue es, gehe ohne Ende (diesen Pfad)!
  • aham – ich
  • tvā – dich
  • sarva-pebhya – von allem Übel, von allen Fehlern
  • mokṣaviṣyāmi (ursächliche zukünftige Handlung) – ich werde freigeben, ich werde veranlassen, freigelassen zu werden
  • – tue nicht, niemals
  • śucaḥ – trauern, sorgen, fürchten

Übersetzung

Gib alles Dharma auf und nimm Zuflucht bei mir allein.
Ich werde dich von allen Übeln befreien. Sorge dich nicht.
Doch fast jede Buch-Übersetzung der ersten zwei Zeilen lautet inhaltlich wie folgt (Beispiel):
Gib alle verschiedenen Auffassungen/Arten von Religion auf und ergib dich einzig Mir.

Diese irreführende Übersetzung und der Glaube, Dharma sei identisch mit dem, was wir unter Religion verstehen, ist leider ein weit verbreiteter Irrtum.

Weil Dharma grundsätzlich nichts mit dem Begriff »Religion« zu tun hat. Religion bringen wir automatisch in Verbindung mit Institutionen wie Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus und den vielen Abspaltungen oder Sekten (diverse Kirchen, Moscheen, Tempel usw.).
Dharma hingegen sind die im Veda vorgeschriebenen Pflichten für das jeweilige Varna (Shudra, Vaishya usw.) und Ashrama wie Schüler/Student (Brahmacari), verheirateter Stand (Grihastha), zurückgezogener Stand (Vanaprastha) und der im Kali-Yuga nicht empfohlene Mönchsstand (Sannyasa). Hier geht es also konkret um jene Pflichten, über die Krishna selbst in der Bhagavad-Gita spricht. Wie z.B., dass er und seine diversen Avataras regelmäßig erscheinen, um das Dharma erneut zu manifestieren.
Für den Großteil der Menschen ist Dharma enorm wichtig, eine Schulung, die ihrem Wesen, bzw. ihrem Bewusstsein entspricht (woraus sich eine natürliche Zuordnung zum Varna-System ergibt). Der gesamte Veda betont immer wieder die Wichtigkeit des Dharma für die Bewusstseinsentwicklung des Menschen. Es existiert seit unvordenklichen Zeiten. Dieses Dharma mit religiösen Institutionen des Kali-Yuga gleichzusetzen, tritt seine Wichtigkeit für die Menschen und ihre geistige Entwicklung quasi mit Füssen. Krishna spricht: O Arjuna, immer wenn Gerechtigkeit (im Tun und in der Pflichterfüllung; dharmasya) abnimmt und Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit (adharmasya) zunimmt, manifestiere Ich Mich selbst.
Um die Guten (sadhus) zu beschützen, die Übeltäter zum Wohl aller zu vernichten und die ursprüngliche Gerechtigkeit (dharmasya) wieder zu etablieren, erscheine Ich in jedem Zeitalter. (Bhagavad-Gita 4.7-8)

Und gleich anschließend kommt der erste wichtige Hinweis auf die Persönlichkeit Krishnas, dass sein Erscheinen sich grundsätzlich von den Geburten (Inkarnationen) der Atmans unterscheidet.

Krishna fügt hinzu:

Jene, die das göttliche Wesen Meines Erscheinens und Meiner Aktivitäten in Wahrheit kennen, werden nach Verlassen ihres Körpers nicht erneut geboren. Sie kommen zu Mir [in Mein ewiges Reich], Arjuna. (Bhagavad-Gita 4.9)

Betrachtung der zweiten Zeile

Einige sind überzeugt, das hier benutzte Verb vraja, sei ein Hinweis auf den Ort Vraja (Vrindavana). Also ein Hinweis, der in der Redekunst des Sanskrit als dhvani bezeichnet wird.
Dhvani bedeutet: Ein versteckter Hinweis in einem Wort, durch den dessen innerer, verborgener Sinn aufgedeckt wird. Solche versteckten Hinweise gibt es immer wieder in den Sanskrit-Texten, es ergibt an Arjuna adressiert keinen Sinn, da sich dieser bereits in einer ewig freundschaftlichen Beziehung zu Krishna im Dvaraka-Gemütszustand befindet. Ein versteckter Hinweis an Arjuna wäre nur eine Störung für seine spezifische freundschaftliche Gemütsstimmung.
Bhaktas (Gott-Liebende) im Dvaraka-Gemütszustand können die Gemütszustände von Vrindavana nicht wirklich verstehen.
Zudem ist sich Sri Krishna darüber bewusst, dass der mystische Seher und Sekretär von Dhritarashtra dieses Gespräch live mitverfolgten. Beide haben keinen Bezug zur Vrindavana-Gemütsstimmung. Kommt hinzu, dass hier vraja als ein Verb benutzt wird, welches zwingend zum Kontext gehört. Selbst wenn darin ein versteckter Hinweis auf Vrindavana verborgen wäre, gibt es im konkreten Gespräch zwischen Krishna und Arjuna keinen Grund, diesem einen Hinweis auf Vrindavana zu geben. Arjuna steht immer, hier und in der spirituellen Welt, in einer freundschaftlichen Beziehung, die zu Dvaraka passt, nicht zu Vrindavana.
Seine freundschaftliche Beziehung zu Krishna ist Ausdruck der vielfältigen individuellen Beziehungen zum Höchsten. Krishna genießt die Individualität der Zuneigung seiner Bhaktas. Er ist definitiv nicht an einer Gleichschaltung der Gemütsstimmungen der Liebe seiner Bhaktas interessiert.

In diesem Zusammenhang kann ich nur an die Worte von A.C. Bhaktivedanta Swami erinnern: Jede Beziehung zu Krishna oder zu einer seiner Erweiterungen, die dem inneren Wesen einer Seele (Atman) entspricht, ist zu 100% erfüllend, wie ein randvolles Glas. Es gibt keine qualitative Wertung oder Abwertung der liebevollen Haltung zu Krishna, und dessen Erweiterungen wie Sri Ramacandra und all den Formen Vishnus.

Nicht jede Seele hat dieselbe Beziehung zum Höchsten, aber allen ist gemeinsam, dass sie in der jeweiligen liebevollen Beziehung vollkommen erfüllt sind, wunschlos zufrieden in ihrem Streben, den Höchsten zu erfreuen, ihn zu lieben und von ihm geliebt zu sein.

Das sieht man sehr deutlich am Beispiel von Murari Gupta, ein Geweihter Ramacandras und Weggefährte Sri Chaitanya Mahaprabhus, der lieber seinen Körper verlassen hätte, als dem Druck Mahaprabhus nachzugeben, sich doch besser Sri Krishna hinzugeben. Später wurde seine unerschütterliche Liebe zu Sri Ramacandra von Mahaprabhu besonders gelobt. (Chaitanya-Charitamrita Madhya-Lila, Kapitel 15. Wiedergegeben in »Gaurangas Bhakti-Lehre«, Seite 184-185.)
So viele Atmans wie es gibt, so viele Nuancen gibt es in der Liebe zum Höchsten.

Srila Vishvanatha Cakravarti Thakura kommentiert diesen Vers-Abschnitt folgendermaßen:

»Gib dich nur Mir hin (mām ekaṁ śaraṇaṁ vraja).«Es gibt in dieser Hingabe keinen Raum für die Verehrung von devatas, astanga yoga, jnana,dharma oder andere Elemente [die nicht zur liebenden Hingabe (bhakti) gehören].

Er erwähnt in seiner vier-seitigen Erläuterung nirgendwo einen versteckten Hinweis auf Vrindavan, der meines Erachtens auch nicht zum  Kontext der Gita passt. Es ist eine Beschreibung des Sanatana-Dharma, des ewigen spirituellen Dharma der Seele (Atman), die ihrem Wesen entsprechend zur ewigen göttlichen Welt gehört, in der die unterschiedlich liebenden Gemütsstimmungen der Bhaktas das ewige Dharma sind. Das bezieht sich in letzter Konsequenz auf alle Beziehungen in Vaikuntha, also auf alle Erweiterungen des Höchsten.

Man sollte Dharma nicht geringschätzen und schon gar nicht mit Religion im heutigen Sinne verwechseln. Für jeden Menschen im materiellen Kosmos (Maya-Shakti), der sich noch mit grob- und feinstofflichen Hüllen identifiziert, bzw. an den Genüssen materieller Formen interessiert ist, ist Dharma enorm wichtig.
Doch im Kali-Yuga – in dem wir uns gegenwärtig befinden – stehen fast alle Menschen auf der Stufe von Mlecchas (Barbaren), bei denen sich kaum die Frage stellt, das Dharma aufzugeben oder nicht, da sie nicht befähigt sind, dem Dharma zu folgen.

Daher ist im Kali-Yuga die Zufluchtnahme beim heiligen Namen, wie von Sri Krishna Chaitanya Mahaprabhu gelehrt, von größter Bedeutung. Es ist diese Zufluchtnahme, die hier in diesen Vers 18.66 dem Arjuna nahegelegt wird. Und dies betrifft jede transzendente Gemütsstimmung in Beziehung zu Krishna oder seiner Erweiterungen.