Gibt es Massenkarma?

Gibt es Massenkarma?

Das nachfolgende Gespräch fand in einem öffentlichen Mail-Forum statt. Meine Antwort stammt vom 1. Sept. 2002 (es sind nur orthographische Schreibfehler aus dem Original korrigiert worden):

Antwort an Giri

Haribol Giri

> Haribol,
> vielleicht war ich ein wenig geschockt, denn meine ganze Krsnaliteratur
> (Gita, das gesamte Bhagavatam) ist ein Opfer der Fluten geworden, und wenn man
> dann gleich eine mail bekommt, dass Krsna für alles sorgt und alles bewahrt,
> klingt es ein wenig wie ein Schlag ins Gesicht.

Das kann ich gut nachvollziehen. Die hier wiedergegebene spirituelle Betrachtungsweise – alles ist Krsnas Segen -, ist zwar richtig und ein für das Bewusstsein beruhigender Gedanke. Steckt man jedoch persönlich knüppeltief in der Misere, hilft nur das tief verinnerlichte Wissen und nicht das gelernte Wissen, das den Weg vom Kopf zum Herzen noch nicht geschafft hat. Ehrlich gesagt, ich würde in deiner Lage wohl ähnlich empfinden und würde unserem Krsna wohl so einiges erzählen, wie sein „Kümmern“ auf mich wirkt. Aber ich kann auch den philosophischen Aspekt sehr gut sehen, fällt es einem aus der sicheren Distanz doch leicht – solange man die wenigen veröffentlichten Einzelschicksale nicht an sein Herz heran lässt -, ein solches Desaster distanziert und rein philosophisch zu analysieren. Das ist vielleicht ein Nachteil der modernen Nachrichtentechnik. Es gibt so viel Elend zu sehen, zu lesen oder zu hören, dass eine gewisse innere Gefühlsdistanz schon fast unabdingbar ist, ein notwendiger Selbstschutz. Diesen Selbstschutzmechanismus kennst Du bestimmt auch von Dir selbst.

> Ansonsten stimmt es schon, andere hat es viel schlimmer getroffen, aber
> andererseits kann ich auch nicht einfach mit einem Hare Krsna über das ganze Leid
> hinweggehen. Schlammschippen war zur Zeit wichtiger.

Schlammschippen und gleichzeitig über Krsna meditieren, wenn das in der momentanen Gefühlslage möglich ist.

> Zum anderen, dass alles nur mein Schlechtes Karma sei. Bei
> Umweltkatastrophen find ich das schwierig zu glauben, dass alle Menschen dann
> dasselbe Karma haben.

Was ist schon schlechtes Karma? Auf jeden Fall ist «Karma» ein äusserst komplexes Thema. Ein kleines Beispiel:
Jemand wird in der Familie eines Millionärs geboren. – Gutes Karma auf den ersten Blick.
Er hätte die Freiheit, sich mit dem Sinn des Lebens auseinanderzusetzen, die Möglichkeit, vielen Menschen zu helfen. Jedoch verursacht der grosse Reichtum sehr oft eine gewisse Arroganz, ein Sich-Besser-Fühlen-als-Andere, verbunden mit einem spirituellen Desinteresse.
So sind die äusseren Umstände nicht automatisch eine Richtschnur für „gutes“ oder „schlechtes“ Karma. Erst das «wie die individuelle verkörperte Seele mit den äusseren Umständen umgeht» kann zeigen, ob es sich in diesem individuellen Fall um gutes oder schlechtes Karma handelt.

Ich glaube auch nicht, dass auch nur ein Mensch genau dasselbe Karma wie ein anderer hat. Der Begriff «Massenkarma» wurde meines Wissens erst in neuerer Zeit formuliert und durch verschiedene New-Age-Bücher verbreitet. Aus der Sanskrit-Sprache wäre mir kein entsprechender Begriff bekannt. Die Wortwahl ist selbst bei einem so grossen Ereignis wie jetzt unrichtig, weil nicht jeder in gleichem Ausmass betroffen ist (materiell) und vor allem nicht jeder gleich damit umgeht. Es hat also – wie das Karma definiert ist – völlig individuell verschiedene Auswirkungen. Mal von den rein materiell messbaren Effekten abgesehen, sind die psychologischen Folgen ganz unterschiedlich. Manche nehmen es vielleicht zum Anlass, nach Gott zu suchen, den Sinn des Lebens zu erforschen und für andere ist es der letzte „Beweis“ für die Nichtexistenz Gottes oder der Beginn erster Zweifel am eigenen Gottesverständnis.
Das ist jetzt alles ganz grob von mir gezeichnet, zeigt aber, wie sich selbst bei «Massenereignissen» das Karma vollständig individuell auswirken kann.

> Ausserdem ist Gott fein raus: Alles Gute ist ein Segen Gottes und alles
> Schlechte unser schlechtes Karma. Ist das nicht ein wenig zu einfach
> gestrickt?

Im Karma sind sowohl die angenehmen wie auch die unangenehmen Reaktionen mit eingeschlossen. Also auch alles Gute, das uns widerfährt, ist eine Reaktion auf vergangene gute Handlungen. Die Denkart des Vaishnava sieht aber den höchsten Herrn als Lenker der sich manifestierenden karmischen Reaktion (die Ursache sind immer die vergangenen Handlungen der Lebewesen – gut und schlecht). Wenn Leid kommt, denkt der gottliebende Vaishnava: „Lieber Krsna, danke, dass Du mir so wenig Leid zugeführt hast, denn aufgrund meiner vergangenen Taten hätte ich viel mehr Leid verdient.“ Der Vaishnava sieht sowohl im Leid als auch in der Freude den höchsten Herrn. Diese Sichtweise kommt aber nicht vom Kopf, sondern sie lebt im Herzen, das in zunehmender Liebe mit Krsna verbunden ist. Imitation dieser Sichtweise und spirituellen Gefühle ist schlicht nicht möglich und würde nur in Frustration enden, im schlimmsten Fall gar in der Abwendung von Gott.
Jeder steht an einem bestimmten Punkt seiner spirituellen Entwicklung, und es bleibt einem keine andere Wahl, als sich mit den Dingen des Lebens von dort aus auseinanderzusetzen, wo man selbst steht.

> Ich hoffe das soviel kritische Gedanken hier erlaubt sind.
> Euer Giri

Dieses Mail-Forum wurde von mir für den kritisch-konstruktiven Gedankenaustausch ins Leben gerufen. Also keine Angst! Geäußerte Kritik oder Zweifel ermöglichen eine innere Auseinandersetzung und vielleicht stehen wir auch mal unseren eigenen Ängsten gegenüber. Das kann meines Erachtens nicht schaden. Wir möchten ja alle unsere spirituelle Liebe erwecken. Furcht, Angst oder Zwang sind aber auf dem Pfad der Liebe keine guten Ratgeber (Helfer).

Meine besten Wünsche
Gaurahari d