Wie die Schweiz ihre Nahrung ver(sch)wendet

wartet auf Überarbeitung

Wie die Schweiz die Nahrung ver(sch)wendet

Von den pflanzlichen Nahrungskalorien, die wir in der Schweiz ernten oder importieren, landet nur etwa ein Viertel in unseren Bäuchen. Der Grossteil, so veranschaulicht die Grafik (ein Klick auf die Grafik ladet eine detailgetreue 335 kb gif-Datei mit genauen Angaben der Nahrungs-Energie in Kilokalorien pro Person und Tag in der Schweiz 1994), geht bei der Umwandlung zu Fleisch- und Milchprodukten verloren.

Verbrauchsgrafik

Als der Bundesrat am 16. September1996 beantragte, in den kommenden drei Jahren 230’000 Kühe zu Tiermehl zu verpulvern, um den Rinderwahnsinn zu bekämpfen, ging ein Aufschrei der Empörung durch das Land: Da sei, so lautete der vielstimmige Tenor in Leserbriefen und Diskussionsrunden, unnütz, geschmacklos, ethisch verwerflich und stelle eine Verschwendung von Geld und Nahrung dar. Wohl wahr: Mit dem Fleisch der 80’000 Kühe, die pro Jahr vermehlt werden sollen, liesse sich der gesamte Kalorienbedarf von etwa hunderttausend Menschen decken.

Angesichts des speziellen Wahnsinns, den die Krankheit mit dem Kürzel BSE auslöste, geht der ganz normale Wahnsinn in unserer Nahrungsversorgung leicht vergessen: Denn alltäglich produzieren wir mit zuviel Dünger und Chemie zuviel Tierfutter, das mit riesigem energetischem Verlust in Fleisch- und Milchprodukte umgewandelt wird, deren Überschussverwertung viele Steuermillionen verschlingt. Und trotzdem können wir uns nur zu etwa 60 Prozent aus dem eigenen Boden ernähren.

Dank etwas Statistik, die der Schweizerische Bauernverband verdienstvollerweise erstellt („Statistische Erhebungen und Schätzungen des Schweizerischen Bauernverbandes“ über das Jahr 1994), lässt sich dieser Befund mit einer vereinfachten grafischen Darstellung (siehe oben) ins Bild rücken.

Ein Viertel im Bauch

Beginnen wir am Schluss. Die 7 Millionen Menschen in der Schweiz konsumieren pro Jahr (immer 1994) Nahrungsmittel mit einem biologischen Energiegehalt von total 36,2 Petajoule. Das entspricht pro Person einem täglichen Nahrungsmittelkonsum von 3400 Kilokalorien (kcal). Davon gelangen 900 kcal als Rüst- und Speiseabfälle zum Kompost oder Kehricht oder als überschüssiges Fett in den Wanst, 2600 kcal kann ein mittelgrosser, mittelaktiver Mensch täglich in den Bauch füllen, ohne Übergewicht anzusetzen. Rund drei Viertel der primär erzeugten Nahrung (inklusive Import 9680 kcal) gehen auf dem Weg vom Wiesen- und Ackerboden bis in den Bauch des Menschen verloren.

Zwei Drittel unseres täglichen Kalorienkonsums decken wir mit pflanzlicher Nahrung (2220 kcal). Davon stammen 950 kcal aus dem Boden im Inland. 1270 kcal – von Getreide über Kaffee bis hin zu Zitrusfrüchten – werden als Roh- oder als Endprodukte importiert. Bei der Verarbeitung von Rohpflanzen (Getreide, Früchte, Zucker etc.) zu den pflanzlichen Endprodukten (Brot, Teigwaren, Wein usw.) entsteht ebenfalls etwas Abfall und damit ein – relativ kleiner – biologischer Kalorienverlust. Das heisst: Die pflanzliche Nahrungsmittelproduktion ist in Wirklichkeit etwas grösser als angegeben. Wir haben dies in der Grafik vernachlässigt, weil präzise Daten dazu fehlen und weil der Grossteil dieser Verarbeitungsabfälle als Tierfutter verwertet und somit unter der Sammelrubrik pflanzliches Kraftfutter in die Nahrungskette zurückgespeist wird.

Verlust übers Tier

Das dritte Drittel unseres Nahrungsmittelkonsums (1180 kcal) stammt aus tierischer Produktion, davon 530 kcal aus inländischen Milchprodukten, 460 kcal aus inländischem Fleisch., Fisch und Eiern sowie 190 kcal aus dem Importüberschuss von Fleisch, Fisch, Eiern und etwas Butter.

Dem Konsum in Form von 990 kcal inländischer Fleisch- und Milchprodukte steht – immer pro Kopf und Tag gerechnet – ein Input von 7210 kcal an pflanzlichem Tierfutter sowie von 60 kcal Tier- und Fischmehlimport gegenüber. Bei der Differenz von 6280 kcal – also von mehr als sechs Siebteln des Tierfutter-Inputs – handelt es sich um Umwandlungsverlust in Form von Kot, Urin oder tierischer Abwärme. Ganz verloren geht diese Chose freilich nicht, betonen Bauernvertreter, denn Kot und Urin kehren als Hofdünger auf die Böden zurück. Doch unsere Böden werden massiv überdüngt: Drei Viertel des ausgebrachten Hof- und Kunstdüngers, so ergab 1995 eine Studie der Landwirtschaftlichen Forschungsanstalt Liebefeld („Phosphor- und Stickstoffüberschüsse in der Landwirtschaft“, Schriftenreihe Nr. 18 der FAC, 1995), verpuffen in die Luft, werden in Seen oder Flüsse abgeschwemmt oder reichern sich in den Böden an.

Rauh- und Kraftfutter

Von den 7210 kcal in Form von pflanzlichem Tierfutter entfallen 5610 kcal auf Rauhfutter, also auf Gras und Heu und etwas Stroh, das kaum anders als zur Tierfütterung genutzt werden kann. Beim Rest von 1600 kcal handelt es sich um pflanzliches Kraftfutter, das importiert (530 kcal) oder im Inland (1070 kcal) erzeugt wird. Der Grossteil davon entfällt auf Getreide und Soja, ein kleiner Teil auf die erwähnten Abfälle aus der Lebensmittelverarbeitung.

Bleibt noch das tierische Tierfutter aus dem Inland (390 kcal). Dabei handelt es sich um das Recycling von Schlacht- und Milchabfällen, die als Magermilch, Milchschotte, Fleischsuppe, Knochen- oder Fleischmehl vorwiegend in die Tröge von Mastschweinen zurückfliessen.

Ab 1996 wird sich die Statistik in diesem Punkt wesentlich verändern: Nachdem Migros und Coop ihren Schweinefleischlieferanten ein Verfütterungsverbot von tierischen Abfällen diktiert hatten, ersetzte ein Grossteil der Mischfutterfabrikanten das proteinreiche Fleisch- und Knochenmehl aus dem Inland durch zusätzliches Soja, das sie vorwiegend aus den USA und Brasilien importieren. Die in der Schweiz vermehlten Schlachtabfälle werden nun zu Dumpingpreisen nach Osteuropa exportiert oder in Zementöfen entsorgt, womit unser Nahrungssystem noch ein bisschen ineffizienter wird, als es schon war. Dieser Sachverhalt wird sich ab 1996 graphisch in einer dünneren Recyclingmenge und einem grösseren Anteil an pflanzlichem Kraftfutterimport niederschlagen.

Kein Extremfall

Insgesamt wurde 1994 in der Schweiz Kraftfutter mit einem Energiegehalt von 2050 kcal pro Kopf und Tag oder von insgesamt 22 Petajoule pro Jahr an Kühe, Rinder, Kälber, Schweine und Hühner verfüttert. Damit liesse sich – rein rechnerisch – der Kalorienbedarf von rund fünf Millionen Menschen decken.

Die Schweiz ist damit aber keineswegs ein Extremfall unter den Industriestaaten, im Gegenteil: Gemessen am Gras und Heu, das annähernd drei Viertel des Kalorienbedarfs der Schweizer Nutztiere deckt, ist der Kraftfuttteranteil hierzulande relativ klein. In den USA und verschiedenen EU-Staaten, so betonen Landwirtschaftsbeamte, sei der Kraftfutter- und mithin auch der Getreideanteil in der Tierfütterung weit grösser als im Gras-und Milchland Schweiz.

Weniger Verlust möglich

In einer Studie für einen „Nachhaltigen Konsum von Fleisch und anderen tierischen Produkten“ („Nachhaltiger Konsum von Fleisch“, Thomas Aeberhard im Auftrag des WWF Schweiz, Oktober 1996) hat der WWF-Schweiz jüngst aufgezeigt, wie sich mit weniger Fleischkonsum die Natur entlasten und die inländische Selbstversorgung steigern lässt. Die Studie basiert auf folgenden vier Bedingungen:
1. Die Düngemengen müssen so weit reduziert werden, dass das neue Gewässerschutzgesetz konsequent eingehalten wird.
2. Die intensive Landwirtschaft muss so weit extensiviert werden, dass sie je zur Hälfte den Massstäben von Biolandbau und Integrierter Produktion (IP) genügt.
3. Die Nutztiere müssen artgerecht gehalten werden, was keine Tierfabriken mehr erlaubt.
4. Der Importüberschuss von Kraftfutter für Tiere sowie der Importüberschuss von Fleisch und Fisch soll auf Null reduziert, der Importüberschuss von pflanzlichen Nahrungsmitteln auf Produkte beschränkt werden, die in der Schweiz aus klimatischen Gründen nicht angebaut werden können (Zitrusfrüchte, Kaffee, Kakao usw.).

Die Realisierung dieses Öko-Modells würde unsere Grafik deutlich verändern: Die Säulen für pflanzlichen Kraftfutterimport, Tier- und Fischmehlimport sowie Fleisch- und Fischimport fielen weg, die Säule pflanzlicher Nahrungsmittelimport würde um die Hälfte dünner. Bei der Erzeugung im Inland ergäbe sich eine Verlagerung, indem mehr pflanzliche Nahrungsmittel, aber weniger pflanzliches Kraftfutter und auch etwas weniger Rauhfutter produziert würde. Gleichzeitig ergäbe sich eine Reduktion bei der Umwandlung von pflanzlichen zu tierischen Kalorien, insbesondere zu Fleisch, womit auch der damit verbundene Umwandlungsverlust kleiner würde und womit weniger Schlachtabfälle zu Fleisch- und Knochenmehl rezykliert werden müssten. Der Konsum von Fleisch, Fisch und Eiern schmölze gegenüber 1994 auf weniger als die Hälfte, während der Anteil der pflanzlichen Menschennahrung entsprechend stiege.

Wenn die Fleischproduktion hierzulande nachhaltig sein soll, so folgert der WWF aus seiner Studie, dürfen Schweizerinnen und Schweizer im Durchschnitt noch zwei Bratwürste oder zwei Plätzli vom Rind oder Schwein pro Person und Woche essen. Alle drei bis vier Wochen gäbe es zusätzlich ein Kalbsplätzli. Geflügel und Fisch kämen alle zwei bis drei Monate auf den Tisch

Und die Fremdenergie?

Sowohl in der Grafik als auch in diesem Text wird im Interesse der Verständlichkeit nur die biologische Nahrungsenergie berücksichtigt, die in den pflanzlichen und tierischen Produkten enthalten ist. Vernachlässigt bleibt damit die Fremdenergie, also Erdöl, Erdgas, Kohle, Wasser – und Atomkraft, die in der Landwirtschaft, in der Lebensmittelverarbeitung und beim Warentransport eingesetzt wird.

In einer Studie, herausgegeben von Greenpeace (Berechnungsgrundlagen zur „Persönlichen Energie- und CO2-Bilanz“ Patrick Hofstetter im Auftrag von Greenpeace Schweiz, 1992), hat der Energiefachmann Patrick Hofstetter 1992 für die Ernährung in der Schweiz einen nichtbiologischen Primärenergiebedarf von total 198 Petajoule (PJ) pro Jahr ermittelt. Davon entfallen 30 PJ auf die Landwirtschaft im Inland, 25 PJ auf die inländische Lebensmittelverarbeitung inklusive Transport und Handel, 33 PJ auf den Nettoimporte von Nahrungs- und Futtermitteln, 16 PJ auf den Nettoimport von Düngemitteln und 34 PJ auf die Gastwirtschaft inklusive Kantinen. Der Kochaufwand im Haushalt ist in den 198 PJ) nicht enthalten.

Rechnet man diesen Fremdenergieaufwand von 198 PJ, der pro Jahr für die Ernährung der rund 7 Millionen Menschen in der Schweiz anfällt, ebenfalls um auf die Kalorienmenge pro Kopf und Tag, ergibt das 18’600 kcal. Das heisst: der Input an Fremdenergie für die Nahrungsversorgung in der Schweiz ist damit rund doppelt so gross wie der gesamte Input an primärer biologischer Nahrungsenergie (9680 kcal) und annähernd achtmal so gross wie der Nahrungsbedarf des Menschen (2500 kcal). Populärer ausgedrückt: In jeder Nahrungskalorie, die wir in den Mund schieben, stecken vier pflanzliche Kalorien und acht Oel-, Gas-, Kohle- oder Atomkalorien.

Guten Appetit!

Quelle: Auszug aus der „Die Weltwoche“, Nr. 46, 14. November 1996, zum Thema «Das Vieh der Reichen frisst das Getreide, das sich die Armen nicht leisten können».