Varnas — Die vedische Gesellschaftsordnung

Das heute entartete Kastensystem

Bereits seit Hunderten von Jahren existiert in Indien die heutige Abart, einer ehemals sehr vorteilhaften Gesellschaftsordnung. Insbesondere die sogenannten Brahmanas, welche ihr Brahmana-Sein zum Geburtsrecht deklarierten, sind verantwortlich dafür, dass dieses System zur Ursache von Diskriminierung, Unterdrückung und viel Elend wurde.

Dieses falsche Verständnis der Varnas ist im Laufe der letzten 5000 Jahre vom indischen Volk assimiliert worden und wird von den Pseudo-Brahmanas mit aller Kraft am Leben erhalten. Aber selbst durch die Unterdrückten findet es Unterstützung, da es fast immer jemanden gibt, der noch weiter unten steht und auf den man dann herunter schauen kann.
So ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch wir im Westen diesem Wahn vom Geburtsrecht, bzw. Geburtszwang, auf den Leim gegangen sind. Und weiter ist es auch nicht verwunderlich, dass christliche Eroberer damit ihre moralische Überlegenheit zu begründen versuchten, anstatt der fehlerhaften Auslegung und Praxis auf den Grund zu gehen. Auf diese Weise versuchte das Christentum (bzw. deren Anhänger) eine eigene Form von unsichtbarem Kastensystem zu postulieren, welche ihre eigene angebliche geistige Überlegenheit aufzeigen sollte.

Das ursprüngliche Varna-System, wie es im Veda beschrieben ist,  kannte aber kein Geburtsrecht oder Geburtszwang. Einzig die persönlichen Eigenschaften wie Charakter, Mentalität, sowie persönliche Neigungen und Fähigkeiten waren für eine natürliche Zuordnung ausschlaggebend.


Der Brahmana
 (Priester, Intellektueller) wird mit dem Kopf des gesellschaftlichen Körpers verglichen. Er muss völlig unabhängig sein, um seine Funktion als Lehrer und Ratgeber erfüllen zu können. Er lebt von Spenden, die er aufgrund seiner Lehr- oder Beratertätigkeit erhält. Bekommt er mehr, als er zum Leben braucht, unterstützt er damit die Allgemeinheit, bzw. die notdürftige Reisende oder Pilger. Er ist im besonderen mit dem Studium des Veda (altindische Schriften über Religion, Philosophie, aber auch über Naturwissenschaften, Politologie, Kunst, Wirtschaft, etc.) und dem Lehren dieser verschiedenen Wissensgebiete beschäftigt. Die Brahmanas vermitteln jedem Wissen, der begierig danach ist. Ihre Lehrtätigkeit ist immer kostenlos. Jene, die von ihnen beraten oder unterrichtet werden, wird nahegelegt, zumindest die Unkosten zu decken, die sie selbst verursacht haben. Jedoch sollten sie sich oder ihre Familien dadurch nicht selbst in Not bringen.
Die Eigenschaften eines Brahmana werden auf folgende Weise beschrieben:

„Die natürlichen Tätigkeiten und Eigenschaften des Brahmana zeigen sich in Friedfertigkeit, Beherrschung des Geistes und der Sinne, Entsagung, Sauberkeit, Toleranz, Aufrichtigkeit, Wissen über den Veda und die passende Verwirklichung dieses Wissens und im Vertrauen in das offenbarte Wissen (Veda).“
(Bhagavad-Gita 18.42)

Die charakterlichen Eigenschaften und die natürliche Neigung, sich nur der Wahrheit verpflichtet zu fühlen, sind die herausragenden Merkmale eines echten Brahmana. Diese Eigenschaften qualifizierten sie letztlich auch dazu, unabhängige Ratgeber der Kshatriyas zu sein.

Der Kshatriya wird mit den Armen des gesellschaftlichen Körpers verglichen. Er übt die Funktion des Monarchen, des Soldaten, des Polizisten, des Regierungsministers aus, oder ähnliche mit der Verwaltung eines Landes, eines Bezirks oder einer Stadt benötigten Tätigkeiten.
Seine physische und geistige Stärke dient dem Schutz der Bevölkerung im allgemeinen. In früheren Zeiten konnte ein Monarch für ein Verbrechen, das in seinem Land stattfand, zur Verantwortung gezogen werden. Nur wenn er fähig war, die Bürger vollständig zu beschützen, war es ihm erlaubt, Steuern einzuziehen. Ein Kshatriya-König war nur von den weisen Ratschlägen der echten Brahmanas abhängig, die ihre Tätigkeit selbstlos im Interesse der Menschen ausübten. Die Kshatriyas waren im insbesondere dafür verantwortlich, die Brahmanas, Kinder, Frauen und die alten Menschen zu beschützen. Ihnen oblag auch der Schutz dieses natürlichen Gesellschaftssystems, ohne das die Menschen große Mühe haben, friedlich nebeneinander und vor allem miteinander Leben können.
Die Eigenschaften des Kshatriya werden auf folgende Weise beschrieben:

„Die natürlichen Tätigkeiten und Eigenschaften des Kshatriya sind Mut, Selbstvertrauen, physische und psychische Kraft, Entschlossenheit, Geschicklichkeit und Mut im Kampf, er ist hilfsbereit und spendefreudig und seine Führungskunst befähigt ihn, andere zu kontrollieren.“
(Bhagavad-Gita 18.43)

Wenn die Könige verschiedener Länder Probleme miteinander hatten, war es ihre Pflicht, alle diplomatischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um einen Krieg zu verhindern. Kam es trotzdem zum Krieg, mussten sie sich an viele Ehrenkodexe halten. Z. B. mussten sie persönlich an der Schlacht teilnehmen. Es musste ein Ort zur Austragung der Schlacht vereinbart werden, abseits von unbeteiligten Zivilisten. Die zivile Gesellschaft durfte unter keinen Umständen durch die Differenzen der Kshatriyas beeinträchtigt werden. Es durften nur gleichwertige Krieger mit gleichwertiger Bewaffnung gegeneinander kämpfen. So gab es viele Regeln allein für das Verhalten im Kampf. Die Schmach oder Unehre, diese Regeln nicht zu befolgen, wurde von einem echten Kshatriya schlimmer empfunden, als 1000 Mal zu sterben.
Ein guter Monarch oder eine gute Regierung wird vom Volk geliebt und von Verbrechern gefürchtet. Wenn die heutigen Politiker nur einen Funken der Ehrenhaftigkeit eines Kshatriyas hätten, würden Korruption und wirtschaftliche Interessen nicht die heutige Politik zum Nachteil von Mensch, Tier und Natur bestimmen.

Der Vaishya wird mit dem Bauch oder Magen des gesellschaftlichen Körpers verglichen. Er treibt Handel, Ackerbau und so weiter. Die Vaishyas handeln untereinander demokratisch. Sie unterstehen jedoch gemeinsam den Richtlinien und der Befehlsgewalt der Kshatriyas. Sie haben freie Hand geschäftlich tätig zu sein, solange sie nicht die Richtlinien der Kshatriyas oder Brahmanas verletzen.
Die Eigenschaften des Vaishya werden folgendermaßen beschrieben:

„Die natürlichen Pflichten der Vaishyas liegen im Ackerbau, im der Aufzucht und Beschützen von Kühen, sowie im Handel.“
(Bhagavad-Gita 18.44)

Der Shudra (Arbeiter, Angestellter, Dienstleistender) wird mit den Beinen des gesellschaftlichen Körpers verglichen. Er leistet allen anderen Dienste. Die jeweiligen Arbeitgeber (im Allgemeinen die Kshatriyas und Vaishyas) sind dafür verantwortlich, dass die Shudras alle Lebensnotwendigkeiten (Wohnraum, Essen, Kleidung, den Fähigkeiten entsprechende Arbeit etc.) erhalten. Jeder, der in irgendeiner Weise Dienste leistet, ist ein Shudra. Seien es heutzutage die Stars der Unterhaltungsbranche, Handwerker, geachtete Künstler, selbst Zahnärzte oder Chirurgen usw. zählen zur Gruppe der Shudras. Die kurze Auflistung zeigt auch, dass die Fähigkeiten der Shudras weit gefächert sind, von rein manuellen bis hin zu intellektuell anspruchsvollen Tätigkeiten.
Der Shudra wird auf folgende Weise beschrieben:

„Die aus der eigenen Natur des Shudra bestehende Tätigkeit liegt in der Dienstleistung gegenüber allen anderen.“
(Bhagavad-gita 18.44)

Dieses System, das gemäß der Veden von Gott selbst geschaffen wurde, soll das friedvolle gesellschaftliche Zusammenleben unterstützen. Es dient dem Wohlstand und der Sicherheit der Bürger, damit diese die nötige Zeit und Ruhe finden, sich Gedanken über den tatsächlichen Sinn des Lebens zu machen. Es ist keine Klassifizierung, die ein Geburtsrecht oder -zwang beinhaltet, sondern ergibt sich ganz natürlich aus den individuellen Eigenschaften und Neigungen, die durch das System gefördert werden sollen, zum Nutzen der gesamten Gesellschaft.

Niemand kann die Unterschiedlichkeit der Menschen leugnen. Selbst in unseren modernen Gesellschaftssystemen gibt es Intellektuelle, Politiker/Verwalter und Soldaten, Bauern und verschiedene Arten von Geschäftsleuten und schließlich diejenigen, die irgendwelche Formen von Dienst oder Arbeit im Angestelltenverhältnis leisten. Nur fehlt es heute, besonders bei denen, die ihrer Tätigkeit entsprechend zu den Brahmanas und Kshatriyas gehören würden, an den entsprechenden charakterlichen Eigenschaften. So erfüllt in unserer Zeit fast niemand die seiner Arbeit entsprechende Qualifikation (Neigung, Fähigkeit, Charaktereigenschaft), was zwangsläufig zu politischen und gesellschaftlich-sozialen Störungen führt.

Genauso wie der menschliche Körper nur gut funktionieren kann, wenn Kopf, Arme, Bauch und Beine harmonisch zusammenarbeiten, genauso funktioniert die menschliche Gesellschaft nur dann richtig, wenn die vier Varnas auf natürliche Weise zusammenarbeiten. Wenn der Kopf, die Arme, die Beine oder der Bauch unabhängig von den anderen Körperteilen sein will, verursacht dies nur eine Störung der natürlichen Harmonie und die Folge ist, dass der gesamte Organismus erkrankt. Deshalb dünkt sich im echten Varna-System niemand besser als ein anderer. Auch hier bringt Gemeinsamkeit die Stärke.

Weil die Brahmanas – rein objektiv betrachtet – die wichtigste Funktion ausüben, ist das Vorhandensein der entsprechenden Eigenschaften von essenzieller Bedeutung. Wenn sie stolz und überheblich werden, wandelt sich dieses Gesellschaftssystem in ein System der Unterdrückung. Das Bhagavata Purana berichtet, dass es genau dieser Stolz war, der vor rund 5100 Jahren (Beginn des Kali-Yuga) dazu führte, dass diese natürliche Gesellschaftsordnung zum heute bekannten Kastensystem entartete, welches nicht mehr die Eigenschaften des Menschen berücksichtigt, sondern nur darauf achtet, in welcher Familie jemand geboren wurde.