Gottes Reich

Gottes Reich

 
Die Welt des eigensüchtigen Messens, Berechnens und Bewertens, die Welt der Maya, und das von ihr unberührte unendliche Reich der ewigen Wirklichkeit, sind am selben Ort. Was man von beiden wahrnimmt, hängt von der Gottabgewandtheit oder Gottzugewandtheit des Atman ab.
Unter dem Einfluss der Maya-Kraft, die von Krishna, dem Zentrum allen Seins, fort stößt und ihn verhüllt, sehen und denken, handeln und begehren die Wesen in der materiellen Welt. Ihr Ziel ist gröberer oder feinerer selbstzentrierter Genuss.
Unter dem Einfluss der Cit-Shakti (Yoga-Maya), die zu Gott hinzieht, der Anziehungskraft zwischen Cit und Cit, durch die sich der Liebesaustausch zwischen Gott und den Atmans in unendlicher Vielfalt steigert, spielen in dienender erkennender Liebe die Wesen des Cit-Reiches. Ihr Ziel enthält nicht die geringste Spur nach persönlichem Genuss, sondern einzig und allein die Freude und das Glück des geliebten Krishna.
In den Upanishaden leuchtet immer wieder der Glanz dieses Reiches auf, mit dem verglichen alles Licht dieser Welt zu einem Schatten der Wirklichkeit wird. Auch in der Bhagavad-Gita kommt dies sehr deutlich zum Ausdruck. Da spricht Sri Krishna in seiner ewigen Cit-Gestalt:
 
„Dieses [Reich] wird nicht von der Sonne, dem Mond oder von Feuer erleuchtet [denn alles leuchtet aus sich selbst heraus]. Diejenigen, die dorthin gehen, kehren niemals wieder zurück [in den endlosen Kreislauf von Geburt und Tod]. Das ist mein höchstes Reich.“
(15.6)
 
Im Bhagavatam, das in einigen anderen Puranas als die Essenz des gesamten Veda bezeichnet wird, heißt es schon in der Allerersten der 18’000 Strophen des gewaltigen Werks, dass Bhagavan Sri Krishna «in seinem eigenen Reich auf immer die Gaukelei der Maya ausgeschlossen hat».
 
Was ist die Substanz dieses ewigen Reiches, das unbegrenzt von Zeit und Raum und unberührt vom Entstehen und Vergehen der Welten ist, das nicht aus festem, flüssigem oder gasförmigen Stoff, nicht aus Molekülen, Atomen, Elektronen, Protonen und auch nicht aus Gedanken und Ideen besteht?
Die Substanz dieses unvergänglichen Reiches ist die den Naturgesetzen in keiner Weise unterworfene Svarupa-Shakti Gottes, die untrennbar zu seiner eigenen Person gehört.
Diese Zentralgestalt des unendlichen Reiches der Svarupa-Shakti, tritt in einem Vers der Brahma-samhita zu Tage:
 
„Mit dem Auge der Bhakti, dem mit der Salbe der Prema (Gottesliebe) gesalbten, schauen die Geweihten immerdar in ihren Herzen den wunderschönen Shyama, dessen Wesensgestalt aus unausdenkbaren Eigenschaften besteht. Ihn, den Govinda (Krishna), die urerste göttliche Person (adi-Purusham), verehre ich in dienender Liebe.“
(5.38)
 
Shyama ist ein uralter Name Krishnas. Das Adjektiv shyama bedeutet ebenso wie das Adjektiv krishna dunkelfarben, eigentlich: alle Farben übereinander gelegt, so dass sie dunkelleuchtend erscheinen; gemeint ist eine nicht der Welt angehörige Farbe, die in den Texten zuweilen mit der dunkelblau leuchtenden Farbe von jungen, frischen Regenwolken verglichen wird. Ein weiterer Name Krishnas ist Govinda, der Erfreuer des Landes, der Kühe und der Sinne.
Die Urgestalt aller Shaktis (göttlichen Kräfte) wird im Padma-Purana und anderen Texten „Radha“ genannt, die golden Leuchtende. Der Name Radha enthält die Wurzel radh, liebend verehren, zufriedenstellen. Es heißt, niemand vermag den höchsten Herrn Shri Krishna durch dienende erkennende Liebe so zufriedenzustellen und zu beglücken wie sie.
Radha heißt auch Bhakti-Devi, die Bhakti-Göttin. Ihre Gestalt, ihr Wesen ist höchste unbegrenzte und unfassbare Premabhakti (Gottesliebe). Ohne ihre Gnade gelangt niemand zu Krishna; ohne dass sie demjenigen, der das Glück des Gottdienens anstrebt, Bhakti aus der Fülle ihrer Bhakti schenkt.
„Radha und Krishna“ sind das ewig jugendfrische göttliche Paar. Sie sind zwei und doch eins. Es heißt, Radha ist eins mit Krishna, so wie der Duft der Rose mit der Rose eins ist. Sie leben im unendlichen Gottesreich, das Goloka oder Vrindavana genannt wird und als das höchste aller Gottesreiche angeschaut wird.
All die anderen Cit-Shakti-Gestalten in den jeweiligen Gottesreichen sind Teilaspekte Radhas. So ist „Lakshmi“ die ewige Gefährtin Narayanas im unendlichen und ewigen Reich Vaikuntha; „Sita“ die ewige Gattin Ramas im unendlichen Reich Ayodhya… Sie alle sind Gestalten, deren Wesen Premabhakti ist. Über jedem dieser unendlichen Reiche wölbt sich ein Cit-Himmel, in dem Sonne, Mond und Sterne aus Cit-Substanz leuchten.
 
Weil Krishna, Gott, die Wünsche aller Lebewesen erfüllt, erweitert er sich selbst in viele Gestalten, die von ihm nicht verschieden sind, nur um die Wünsche seiner Geweihten zu befriedigen. Die zahllosen Seelen, die Gott in Liebe dienen möchten, um ihn zu erfreuen, tragen verschiedenartige Idealvorstellungen einer liebevollen Beziehung zu Gott in sich. Einer möchte ihn vielleicht mit viel Prunk und Reichtum verehren, ein anderer möchte ihn einfach als seinen Freund umgeben, um ihm seine freundschaftliche Liebe darzubringen. Allein um all diese unterschiedlichen Wünsche zu erfüllen, erweitert er sich aus Liebe zu seinen Geweihten in unterschiedliche Gestalten, die alle ein in sich unendliches Gottesreich zur Verfügung stellen. All diese Gestalten Gottes sind der Eine, der höchste Herr selbst, der sich in unendlich viele Gestalten erweitern/vervielfältigen kann, um mit jedem Atman eine ihm individuelle Beziehung göttlichen Liebesaustausches genießen zu können.
 
Gott erfüllt aber nicht nur die Wünsche derjenigen, die ihm in Liebe dienen wollen. Nein, er erfüllt auch die Wünsche all jener, die selbst im Zentrum stehen möchten. Ihnen stellt er Milliarden von Universen (Brahmandas1) zur Verfügung, die mit den unterschiedlichsten Möglichkeiten ausgestattet sind, um (scheinbar) unabhängig von Gott genießen zu können.
 
Quelle: Krsna-Caitanya – Sein Leben und Seine Lehre; Walther Eidlitz, 1968
Zitiert aus und ergänzt in Gaurangas Bhakti-Lehre
 
 
 

1 Als Brahmanda wird das Reich eines Brahmā (nicht zu verwechseln mit Brahman) bezeichnet. – Durch die moderne Astronomie entstand in den letzten Jahrzehnten ein weitaus größeres Bild des physikalischen Kosmos, als noch vor sechzig oder hundert Jahren erkannt wurde. Daher sind sich heutzutage einige Übersetzer von Sanskrittexten uneins, ob der Begriff „Brahmanda“ mit „Universum“, so wie man es heute im Jahre 2018 versteht, gleichgesetzt werden kann oder ob sich „Brahmanda“ eventuell nur auf eine Galaxie oder auf eine andere kosmische Größenordnung bezieht.
Erschwerend kommt hinzu, dass das Universum, wie wir es durch das Hubble-Teleskop kennen, lediglich die sichtbaren und messbaren physikalischen Aspekte beinhaltet. Laut Veda besteht ein Brahmanda jedoch zum größten Teil aus feinstofflichen Welten, die von in feinstofflichen Körpern lebenden Atmans bewohnt werden, deren Existenz sich unseren Sinnen und gegenwärtig vorhandenen Instrumenten vollständig entzieht, obschon sie gemäß Veda Teil des messbaren Kosmos sind.