Leserbrief von David Schweizer

Reinkarnation im Judentum anerkannt

Samstag, 6. Juni 1998

Ein Leserbrief zum Artikel:

«Eine Reinkarnation wirbelt Staub auf», BaZ Nr. 120, 1998

In diesem Artikel wird behauptet, dass die Mehrheit der religiösen Juden nicht an Reinkarnation glaubt. Das ist falsch. Die Wiederverkörperung (Gilgul) ist im religiösen Judentum weitgehend anerkannt. Für die chassidischen Juden ist der Glaube an Reinkarnation ein zentrales Element ihres religiösen Selbstverständnisses. Sie bildeten vor dem Holocaust die Mehrheit des europäischen Judentums und sind auch heute einer der grössten jüdischen Gruppierungen. Dass die Opfer des Holocaust wiedergeboren werden, ist für sie eine Selbstverständlichkeit (vgl. Rabbi Yonassan Gershom: «Kehren die Opfer des Holocaust wieder?»).
Meine Grosseltern sind in Auschwitz ermordet worden. Dass sie ein neues Leben haben können, bedeutet für mich Genugtuung und Trost. Der Gedanke, dass auch Anne Frank sich wiederverkörpern wird, ist für einen religiösen Juden kein Problem. Ob sie als Barbro Karlén wiedergekommen ist, weiss ich nicht. Ich habe Barbro Karlén persönlich kennengelernt und gewann den Eindruck, dass sie eine ausserordentlich bescheidene und integere Person ist. Es sind vor allem nichtreligiöse Juden, die den Gedanken von Reinkarnation ablehnen. Dazu gehören die paar wenigen Mitglieder der «Aktion Kinder des Holocaust». Sie haben vom Judentum offensichtlich keine Ahnung und sind in keiner Weise repräsentativ. Der übertriebene Aktivismus und die unwürdige Vereinnahmung des Holocaust durch diese Gruppe löst in jüdischen Kreisen allgemein Missfallen aus. Ihre Mitglieder glauben offenbar, dass die Opfer des Holocaust ewig tot und die Täter ewig schuldig sind. Aus den Quellen des Judentums erfahren wir ganz anderes. Diejenigen, die gelitten haben, werden andere, bessere Leben haben, und die Verbrecher können zum Guten umkehren – wenn nicht in diesem Leben, dann in einem anderen. Dem reuigen Sünder wird verziehen werden, wobei die Art des Ausgleichs für seine Taten im Himmel bestimmt wird. Dieses Ausgleichssystem entspricht dem, was man in der indischen Tradition «Karma» nennt. Karma ist kein «Straf»-Gesetz, sondern ein Weg des Lernens, so wie auch die jüdische Religion als solche nicht als Gesetz, sondern als Weg (Halacha) und als Lehre (Thora) verstanden wird. Der Mensch muss über viele Inkarnationen hinweg lernen, das Gute selber zu wollen. Im Paradies war er auch gut, aber er «wollte» das Gute nicht. Er war unbewusst gut. Wer sich nie schuldig gemacht hat, wird nie die Scham empfinden, die ihn dazu bringt, inskünftig Gutes zu tun. Durch eigenes Leid stärken wir unser Mitgefühl. Aus Jesaja 53 lernen wir, dass Menschen auch Leiden auf sich nehmen können, um die karmischen Lasten anderer mitzutragen.

Alles hat einen Sinn: das Schuldigwerden wie das Leid. Wer das nicht glaubt, muss sich fragen, ob er nicht an Gott zweifelt, denn dieser hat beide Möglichkeiten geschaffen. Und welcher gläubige Mensch will behaupten, dass Gott Sinnloses schafft? Wenn wir genug Liebe und Mitgefühl gelernt haben, werden wir der Auferstehung würdig sein. Reinkarnation und Karma sind Ausdruck der göttlichen Gnade. Was die «Aktion Kinder des Holocaust» verkündet, ist eine Botschaft der Trostlosigkeit. Die jüdische Religion dagegen lehrt uns, dass es eine göttliche Gnade, ein Verzeihen und eine Auferstehung von den Toten gibt. Sie ist eine Botschaft der Hoffnung und der Freude.

David Schweizer,
Präsident der Zionistischen Vereinigung Basel

Siehe auch Artikel in «DER BUND» und weitere Leserbriefe

Anmerkung von Gaurahari

Bei der Wiedergabe dieses Leserbriefes geht es mir nicht darum, ob Barbro Karlén tatsächlich die wiedergeborene Anne Frank ist oder nicht, denn hierzu könnte ich nur Vermutungen anstellen.
Vielmehr möchte ich damit aufzeigen, dass der Glaube an Reinkarnation und Karma, wie dieser Leserbrief von Herrn Schweizer aufzeigt, dem jüdischen Gedankengut nicht fremd ist – ganz im Gegenteil. Daher komme ich auch nicht umhin, auf das Buch von Rabbi Yonassan Gershom zu verweisen, welcher eine Fülle von Informationen zum Thema Reinkarnation und Karma im jüdischen Glauben anbietet. Wie David Schweizer möchte ich daher den Lesern meiner Homepage ebenfalls die Lektüre seines Buches «Kehren die Opfer des Holocaust wieder?» ans Herz legen. Dieses Buch bietet einen ungeahnten Einblick in den jüdischen Glauben und kann für mein eigenes geistiges Streben nur als eine echte Bereicherung empfunden werden.

FAQ zum Thema Reinkarnation
FAQ zum Thema Karma