Der Yogi und die (nicht-)Gewalt

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Der Yogi und die (Nicht-)Gewalt

Ein Beitrag aus Sacimatas Yoga-Kurs

Ahimsa (Nichtverletzen, Nichtgewalt) gehört zu den zentralen Werten der vedischen Tugendlehre. Sie stellt eine der fünf Tugenden des ersten Gliedes (yama) im achtfachen Yogasystem von Patanjali dar (vgl. Kap. 2.4.). Keinem Lebewesen soll Gewalt angetan werden, indem man es durch Gedanken (deren Kraft nicht unterschätzt werden sollten), Worte oder Taten verletzt.

Buddha predigte ahimsa und verurteilte den damaligen brahmanischen Ritualismus, der die Tempel in blutigen Tieropfern zu Schlachthäusern umwandelte. Auch im Jainismus – der ähnlich dem Buddhismus zu den Nichtorthodoxen östlichen Philosophiesystemen gezählt wird – kommt ahimsa grosse Bedeutung zu. Viele ihrer Mönche tragen ein Tuch vor dem Mund, um keine Kleinstlebewesen einzuatmen. Dazu führen sie einen Staubwedel mit sich, mit dem sie ihren Weg und den Sitzplatz von Ameisen und andern Kleintieren säubern können, um diese nicht beim Gehen oder Sitzen versehentlich zu töten. Und natürlich gehört auch Gandhi zu den grossen Vertretern der Nichtgewalt. So schrieb er: „Nichtgewalt ist mein erster Glaubensartikel. Sie ist auch der letzte Artikel meines Bekenntnisses.“ (Young India, 23. März 1922, S. 166).

Im Gegensatz zum Buddhismus und Jainismus weist Gandhi, der in der Welt für den gewaltlosen Widerstand schlechthin bekannt ist, in Übereinstimmung mit den Traditionen des Veda darauf hin, dass Gewalt auch eine Pflicht sein kann, – etwa wenn ein Bauer seine Ernte vor Affen schützt oder ein Amokläufer getötet wird, bevor er weitere Menschen umbringt.

So sind Gewalt und Nichtgewalt keine Werte an sich. Vielmehr stehen sie immer in Bezug und Abhängigkeit zur Person und der Situation. Je nach den Umständen kann die Vermeidung von Gewalt zu noch grösserer Schädigung führen oder die Anwendung von Gewalt, weitere Zerstörung verhindern.
Beispiele hierfür gibt es viele:
Zur Erhaltung des eigenen Körpers, schädigt der Mensch laufend andere Lebewesen, sei es in der Ernährung, Hygiene oder Krankheitsvorsorge.
Ein Bauer muss seine Ernte vor Schädlingen beschützen – in Indien und Afrika bisweilen auch vor Affen und Elefanten. Er wird seine Erde pflügen und dabei kurzfristig manches Leben nehmen.
Eltern beschützen ihre Kinder vor Angreifern.
Polizisten und Soldaten sollen die Bürger vor Überfällen (Kriminalität) und Ausbeutung bewahren.

Es würde eine grobe Pflichtverletzung darstellen und sicherlich zu viel Leid führen, wenn all diese Menschen in den entsprechenden Situationen die Haltung der Nichtgewalt einnehmen würden. Eigentliche ahimsa beinhaltet daher zwei ganz unterschiedliche Aspekte: die Vermeidung von Gewalt und unumgänglicher Schutz durch Gewalt.
Ahimsa begründet sich in erster Linie auf der Motivation des Tuns. Wenn beispielsweise jemand aus Angst, Gleichgültigkeit oder sogar Rechthaberei die Schädigung/Leiden anderer geschehen lässt, obschon er diese durch sein Eingreifen vermeiden könnte, geht er am Gedanken des ahimsa vorbei. Er befindet sich genauso im Unrecht, wie jemand, der aus Zorn, Hochmut, Parteilichkeit, Neid, Selbstsucht oder einem ähnlichen Beweggrund heraus Gewalt anwendet.

Aus diesen Beschreibungen wird klar, weshalb ein Krieg wie Kurukshetra in der indischen Tradition als gerechter Krieg verstanden wird, ohne dass damit gleichzeitig ein religiöses Prinzip der Führung eines „heiligen Krieges“ mitbegründet wurde. Arjuna stellte sich die zentrale Frage des richtigen Handelns. Er hinterfragte in erster Linie seine Motivation und gab zu bedenken: „Was nützt ein Königreich, wenn es auf dem Blut so vieler Freunde und Lehrer aufgebaut ist.“ Der Ratschlag, den er erhält, ist einfach, aber tiefgehend: „Handle deiner Pflicht entsprechend als Beschützer. Doch handle frei von Erfolgsmotivation, Parteilichkeit oder gar Gier und Rachsucht.“ Die zentrale Idee dieses Ratschlages beschreibt den Verzicht IN der Handlung, und nicht den Verzicht AUF die Handlung. Das Prinzip, das hier beschrieben wird, nämlich in seinem Tun frei von jeder selbstischen Motivation, Bosheit, Zorn oder dem Anspruch auf Kontrolle zu sein, beruht weder auf einer metaphysischen noch auf einer theologischen Begründung. Vielmehr ist es eine ethisch-moralische Lebensphilosophie, die hier vertreten wird.

Auch ahimsa ist in erster Linie ein ethisch-moralisches Prinzip. Es steht jedoch, genau wie der Verzicht in der Handlung, in engem Bezug zur religiösen Dimension der Botschaft der Bhagavad-gita. So stellt der indische Philosoph und frühere Ministerpräsident Sarvepalli Radhakrishnan (1888 – 1975) fest:
„Das Ideal, welches uns die Gita vor Augen führt, ist ahimsa, Gewaltlosigkeit … Wohl müssen wir gegen das Böse kämpfen, doch führt es zu unserer eigenen geistigen Niederlage, wenn wir uns selbst zum Hass verleiten. Es ist unmöglich, in einem Zustande absoluter Gelassenheit und Versenkung in Gott, Menschen zu töten.“ (in Ram Adhar Mall, Der Hinduismus, 1997, S. 80).

Für den Yogi beginnt ahimsa deshalb nicht in der Verrichtung oder Vermeidung äusserer Tätigkeiten, sondern bei sich selbst. Er wird versuchen, Tugenden wie Unparteilichkeit, Mitgefühl, Geduld, Friedfertigkeit, Wohlwollen zu entwickeln.